The Holy Bitch Project

häusliche, sexualisierte und digitale Gewalt gegen Frauen

von Christiane Mudra

Uraufführung am 20. Juni 2021 in München
Berlin-Premiere: 02. November 2022

Trailer der Uraufführung in München

Christiane Mudra untersucht in The Holy Bitch Project anhand von Gesprächen mit betroffenen Frauen und Expert:innen Dynamiken von analoger und digitaler Gewalt gegen Frauen in Deutschland und ihren kulturellen wie gesellschaftlichen Nährboden.
In Anlehnung an den Film Matrix (1999) schlucken die Zuschauer:innen wie der Filmheld Neo die rote Pille, die einen Blick hinter makellose Kulissen gewährt. Das Publikum folgt den Performer:innen in ein interaktives Labyrinth aus Spielszenen und binauralem Sound, in dem häusliche, sexualisierte und digitale Gewalt erfahrbar wird. Da die Alt-Right-Bewegung und die frauenfeindlichen „Incels“ die Filmmotive zur Verbreitung misogyner Verschwörungstheorien nutzen, macht sich The Holy Bitch Project die Matrix-Welt bewusst zu eigen und etabliert ein feministisches Gegennarrativ.

Kontext

Im November 2019 wurde eine 28jährige Berlinerin von ihrem Partner erstochen, weil sie sich trennen wollte. Die Justiz stuft die Tat wie in vielen ähnlichen Fällen als Totschlag ein, denn der Bundesgerichtshof hatte 2008 geurteilt, der niedere Beweggrund als Mordmerkmal sei anzuzweifeln, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte sich durch die Tat dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“. Der Besitzanspruch des Mannes wirkt also strafmildernd. Die Formulierung suggeriert eine Mitverantwortung des Opfers. Ende September 2019 urteilte das Landgericht Berlin, dass die Bezeichnung „Drecks-Fotze“ für die Bundestagsabgeordnete Renate Künast keine strafbare Beleidigung sei. Diese Gerichtsurteile zeigen exemplarisch, mit welchen Wertesystemen Frauen nach wie vor konfrontiert sind. Trotz insgesamt rückläufiger Gewaltzahlen und zunehmender Gleichberechtigung wird in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Die Zahl der Tötungsversuche ist dreimal so hoch. 2019 wurden fast 115.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt. Die Tendenz ist steigend. Nur eine von hundert vergewaltigten Frauen in Deutschland erlebt die Verurteilung des Täters. Nachdem der Bundesgerichtshof 1966 „Opferbereitschaft“ beim ehelichen Geschlechtsverkehr gefordert hatte, wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 verboten. Die MeToo-Debatte hat erstmals eine breite Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt bewirkt. Echte Konsequenzen sind jedoch ausgeblieben. Obwohl sich Partnerschaftsgewalt gleichermaßen durch alle Bildungs- und Gesellschaftsschichten zieht und die weit überwiegende Mehrheit der Tatverdächtigen deutsche Staatsbürger sind, hält sich fälschlicherweise das Klischee, Gewalt sei an prekäre Lebensumstände oder einen Migrationshintergrund gekoppelt.

Auch online werden Politikerinnen, Journalistinnen oder Aktivistinnen, die sich kontrovers äußern, mit Vergewaltigungsdrohungen bombardiert. Im Bereich des Stalkings oder der Überwachung der eigenen Partnerin bietet die Digitalisierung hoch invasives Werkzeug wie das Auslesen von Mobilgeräten oder die Fernsteuerung von Smart Home Systemen durch Spy Apps, die den Psychoterror perfektionieren. Pornoplattformen ermöglichen anonymen Nutzern den Up- und Download von Videos und öffnen damit dem Missbrauch Tür und Tor. Die Phänomene sind nicht neu. Doch digitale Mittel spitzen sie zu.

Simone de Beauvoir schrieb einst in „Das andere Geschlecht“: „On ne naît pas femme; on le devient.“ Wie werden heute Frauen zu Frauen? Wie werden Frauen zu Opfern? Wie wird die Frau zur Trophäe, zum Besitz erklärt? Welche Rolle spielt der weibliche Körper im Kapitalismus? Ist der Frauenkörper längst zum Schlachtfeld geworden?
Angesichts der unveränderten Gewaltzahlen untersucht The Holy Bitch Project neben den Erfahrungsberichten betroffener Frauen und der Rechtslage in Deutschland auch patriarchale Strukturen, gewaltverherrlichende Songtexte, Rollenbilder in Märchen und Liebesgeschichten, den Einfluss der Pornoindustrie auf Ästhetik und Sexualität, Erziehungsmuster und Beispiele für die alltägliche Abwertung oder Entmündigung von Frauen. Im Kern stehen die Fragen: Wo beginnt Gewalt? Wie gelingt es uns als Gesellschaft, patriarchale Strukturen zu überwinden und für Augenhöhe und Respekt einzutreten?
Ziel des Abends ist es, die Aufmerksamkeit für die Dimension seelischer und physischer Gewalt gegen Frauen zu schärfen, Angehörige aller Geschlechter miteinander ins Gespräch zu bringen, ein Zeichen zu setzen und handlungsfähig zu werden.

Das Geheimnis der Matrix

Antifeministen vernetzen sich online und international. Sie formulieren ein „Grundrecht“ auf Fortpflanzung, unterstellen Feministinnen die Unterdrückung der wahren Männer machen sie für das Aussterben des wie auch immer definierten Volkes verantwortlich.
Nachdem sich die rechtsextreme und frauenfeindliche Incel-Bewegung (Incel steht für Involuntary celibacy, also unfreiwillig im Zölibat Lebende) in US-amerikanischen Onlineforen formiert und immer wieder die Tötung von Frauen propagiert hatte, ließen die realen Gewalttaten nicht lange auf sich warten: Nach Elliot Rodger (2014, Isla Vista) hatte zum Beispiel auch der Toronto-Attentäter Alek Minassian eine eindeutige Nachricht hinterlassen: „The Incel Rebellion has begun“. Spätestens mit dem Attentäter von Halle, der ein ähnliches Mindset aufweist, ist dieses Phänomen auch in Deutschland angekommen.
Als Folie für The Holy Bitch Project dient der Film „Matrix“ (lat.: Gebärmutter) von 1999, dessen Macher, die Wachowskis, sich später beide als transgender outeten und die Matrix-Filmreihe als Metapher für die Transition benannten. Da die Alt-Right-Bewegung und die frauenfeindlichen „Incels“ die Filmmotive zur Verbreitung misogyner Verschwörungstheorien nutzen, macht sich The Holy Bitch Project die Matrix-Welt bewusst zu eigen und etabliert ein feministisches Gegennarrativ.

Workshops

Wo sind meine Grenzen? Empowerment für Frauen
Präsenzworkshop mit Susanne Funk am 22. Juni 2021 von 18-21 Uhr
Anmeldung über pathosmuenchen.de

Die Sozialpädagogin, Familien- und Traumatherapeutin Susanne Funk berät seit 17 Jahren Frauen bei Partnergewalt und unterstütze Familien nach Häuslicher Gewalt. In diesem Workshop sensibilisiert sie durch grundlegende Informationen zu Formen, Dynamik und Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt. Sie thematisiert die Schamgefühle und das Schweigen von Gewaltbetroffenen, Tätern und ihrem Umfeld. Sie schult Selbstwahrnehmung und Selbstbehauptung und regt durch theoretischen Input und praktische Übungen Wege aus der Ohnmacht hin zu einem selbstbestimmten Handeln an.

Digitale Sicherheit
Präsenzworkshop mit Daniel Moßbrucker am 27. Juni 2021 von 14-17 Uhr
Anmeldung über pathosmuenchen.de

Bei digitaler Überwachung denken viele zunächst an Geheimdienste oder Cyber-Kriminelle. Die realen Bedrohungen für Frauen lauern aber meist woanders: Welche Bilder sollte ich nicht online teilen? Wie stelle ich meine Social Media-Profile möglichst privat ein? Wie könnte mein:e Ex-Freund:in mich mit einer Späh-App ausforschen? Kann mein:e Partner:in meine WhatsApp-Nachrichten lesen, wenn wir im selben WLAN sind? Diese und andere Fragen beantwortet Daniel Moßbrucker, Journalist und Trainer für digitale Sicherheit, in einem interaktiven Workshop.

Presse


"'The Holy Bitch Project' ist ein aufrüttelndes Theatermeisterwerk.

Selten erlebt man einen Theaterabend, der so lange haften bleibt, der einen so lange nach Ende der Aufführung umtreibt. (...) "The Holy Bitch Project" von Christiane Mudra im Pathos Theater ist großartig, zwingend notwendig und so gestaltet, dass man ihm nicht entgehen kann.
Christiane Mudra hat eine Recherche-Leistung vollbracht, die man schon als umfassende wissenschaftliche Studie begreifen kann. Diese Arbeit kondensiert im fabelhaften, ungeheuer detailreichen Programmheft, vor allem aber wird sie in der Aufführung selbst emotional erfahrbar.

Mudra widmet sich als Dokumentartheaterspezialistin Themen, die weh tun. Ihre Bestandsaufnahmen sensibilisieren, man denkt über das eigene Verhalten nach, aber sie sind auch ein Weckruf, der sich ans System und an die Gesellschaft richtet.
Das Panoptikum der tausend individuellen Fälle, die nie Einzelfälle sind, wandelt sich nach und nach zum Aufspüren des Fehlers im System. Das Spiel ist aus."



"Christiane Mudra hat ihr "Holy Bitch"-Projekt über Gewalt an Frauen in einen aufregenden Kinofilm verwandelt.

Für ihr großartiges Projekt hatte die versierte Dokumentartheatermacherin lange recherchiert, ein Jahr lang Interviews mit betroffenen Frauen geführt, ein Programmbuch erstellt, das zu einem Standardwerk zum Thema werden könnte. (...) die Mitwirkenden erhalten eine filmisch autonome Wucht, kommen einem viel näher als im Theater; (...) In den vergangenen zwei Jahren gab es viele Versuche, Theater filmisch umzusetzen, "Holy Bitch" ist den meisten dieser Unternehmungen weit voraus, ist als Zwitter zwischen Film und Theater ein Unikat. (...)
Die Fülle des Materials und dessen emotional packende Aufbereitung darf nicht verloren gehen."

“Allein die Programmhefte der, wohlgemerkt freien, Produktionen von Christiane Mudra sind den Theaterbesuch schon wert. (...)

Das Projekt von Mudra ist aktueller denn je, und sie macht es sich - ähnlich ambitioniert wie in ihrer Trilogie über die rechtsradikalen Verbindungslinien, die sich vom Nationalsozialismus bis ins Heute ziehen - zur Aufgabe, möglichst umfassend die Hintergründe für den gewaltvoll-herabwürdigenden Umgang mit Frauen zu beleuchten. (...) Mudra hat mal wieder mit perfektionistischem Drive recherchiert;

(...) Waren der Western oder der Stummfilm in früheren Arbeiten wirksame Folien für die Informationsflut, so findet Mudra dieses Mal in dem Blockbuster "Matrix" einen spielerischen Rahmen. (...) Mudra greift sich die Metapher der "roten Pille" und vereinnahmt sie wiederum für ein feministisches Narrativ, in dem die Matrix, die es zu durchbrechen gilt, das Patriarchat ist. Als schockierender Weckruf (...) funktioniert Mudras Performance sehr gut - auch dank eines Ensembles, das die oft ziemlich trockenen Informationen (...) ins Spiel bringt, hochengagiert und hochemotional im Einklang mit ihrer Regisseurin.

"'Heilige' und 'Hure' sind stark verfestigte Rollenbilder, die nicht nur in männlichen, sondern auch in weiblichen Köpfen vorhanden sind. Und ich habe inzwischen verstanden, dass sich die Gewalt an diesen Rollenbildern und diesen erschreckend veralteten Sichtweisen auf Geschlechter festmachen lässt. Expertinnen, Experten mit denen ich gesprochen habe, Männer wie Frauen, haben ziemlich klar gesagt, um die Gewalt in den Griff zu bekommen, müssen wir das Patriarchat abschaffen. Wir müssen als Gesellschaft an einen Punkt kommen, wo das Geschlecht keine sozialen Konsequenzen mehr hat. (...) Auch bei jungen Frauen zeigt sich eine neue feministische Bewegung - aber ich sehe da auch in der jungen Generation eine Spaltung, ein Teil von ihr ist auch empfänglich für einen Backlash. kennzeichnet für mich eine umkämpfte Zeit, in der sich die Werte in unserer Gesellschaft verändern. Übrigens nicht nur im Geschlechterdiskurs, sondern zum Beispiel auch in puncto Rassismus. Die Gegenwehr derer, die Veränderungen verhindern wollen, zeigt, dass es sich um die entscheidenden Themen handelt."


Credits


Konzept, Recherche, Text und Regie: Christiane Mudra

Mit: Meriam Abbas, Charity Collin, Sebastian Gerasch, Murali Perumal, Corinna Ruba, Isabella Wolf
Berlin-Cast: Meriam Abbas, Jane Chirwa, Sebastian Gerasch, Edith Konrath, Mathias Kopetzki, Corinna Ruba

Bühne und Kostüm: Julia Kopa
3D Sound Design: Martin Rieger / VRtonung
CGI/VFX: Yavuz Narin
Video: Kevin Fuchs / Visual Vitamin
Licht Design und Technische Leitung: Peer Quednau
Mitarbeit Recherche und Social Media: Silvia Bauer
Regieassistenz: Carolin Pfänder
Produktion: ehrliche arbeit- freies Kulturbüro
PR: Kathrin Schäfer KulturPR
Grafik: Jara López Ballonga
Fotos: Verena Kathrein