Kein Kläger
NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren
Ein interaktives Game im Stadtraum mit Zeitzeugnissen und Schauspielern
von Christiane Mudra
Uraufführung am 11. Juli 2019
RODEO Festival 2020
Trailer der Uraufführung am 11. Juli 2019
Nach »Wir waren nie weg – die Blaupause« (2015, Exekutive) und »Off the record – die Mauer des Schweigens« (2016, Legislative) beleuchtet »Kein Kläger« die Bedeutung der Judikative.
Im Münchner Stadtraum trifft das Publikum auf Schauspieler*innen und Augmented Reality Clips mit eigens für die Produktion interviewten Zeitzeug*innen.
Kein Kläger beleuchtet Beispiele der Münchner Justizgeschichte und regt den Zuschauer an, sich mit juristischer Aufarbeitung sowie mit Errungenschaften und Schwächen des Strafrechts auseinanderzusetzen.
Durch die Rechtsbeugung des Richters Neithardt konnte der Putschist Hitler bereits nach wenigen Monaten Haft in seinen Unterstützerkreis zurückkehren. 1924 wurde die Nachfolgepartei der zeitweise verbotenen NSDAP stärkste Kraft in München. 1943 verurteilte der Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler zahlreiche Mitglieder der Weißen Rose in zwei Schauprozessen zum Tode. Seine in München wohnhafte Witwe bezog bis in die 90er Jahre eine erhöhte Rente. Am Münchner Oberlandesgericht waren nach 1945 Juristen von Sondergerichten und Volksgerichtshof tätig. Der Prozess gegen Philipp Auerbach (1952) trug antisemitische Züge und mündete in den Suizid des Angeklagten. Theodor Maunz, der als Professor dem NS-Regime juristische Legitimität zu verschaffen gesucht und die Gewaltenteilung zugunsten der Führergewalt wegargumentiert hatte, wurde bayrischer Kultusminister und Professor an der LMU. Der Standardkommentar zum Grundgesetz trägt bis heute seinen Namen.
Der Bundesjustizminister Engelhard schrieb 1989, er halte die Flucht vor der Aufarbeitung des eigenen »geräuschlosen Abgleitens in den Nationalsozialismus« für »die Fehlleistung der bundesdeutschen Justiz«. Der Bundesgerichtshof kritisiert in einem Grundsatzurteil von 1995 mit scharfen Worten die »regelrechte Rechtsbeugung« der Nachkriegsjustiz.
Am 11. Juli 2019 jährt sich das Urteil im NSU-Prozess am Münchner Oberlandesgericht zum ersten Mal. Prozessbeteiligte und -beobachter fragen sich bis heute, warum das Gericht ausgerechnet bei den beiden aktiven Rechtsextremisten unter den Angeklagten weit unter der Strafmaßforderung der Bundesanwaltschaft blieb.
Verheerend war das Signal definitiv. Den Schlussakkord in einem der wichtigsten Nachkriegsprozesse bildete selbst 2018 der johlende Applaus der Neonazis, in den sich das Schluchzen der Hinterbliebenen mischte.
Vor dem Hintergrund der genannten Beispiele untersucht »Kein Kläger« exemplarisch Schauplätze, Urteile und juristische Karrieren, aber auch Fälle von gelungener Aufarbeitung.
Im Zentrum von »Kein Kläger« steht die Frage: Welche unverzichtbare Rolle spielt(e) die Justiz der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bei der Eindämmung rechtsextremer und antisemitischer Gewalt?
Der Mythos der Entnazifizierung kann durch die personellen Kontinuitäten in fast allen Behörden und Ministerien der jungen Bundesrepublik widerlegt werden.
Eine überwältigende Anzahl von Staatsanwälten und Richtern mit NS-Vergangenheit prägte in den Nachkriegsjahrzehnten nicht nur Rechtsverständnis und Lehre, sondern war vielfach auch für die Ahndung von NS-Verbrechen verantwortlich.
Eingestellte Ermittlungsverfahren, Freisprüche und milde Urteile gegen die Täter waren an der Tagesordnung.
Dies entsprach durchaus dem politisch-gesellschaftlichen Klima, in dem der Kommentator der Nürnberger Gesetze Globke die rechte Hand von Kanzler Adenauer wurde, Josef Mengele unbehelligt nach Deutschland reisen konnte und eine Auslieferung von Adolf Eichmann undenkbar erschien.
Das Schweigen war kollektiv und einvernehmlich.
Kein einziger belasteter Richter oder Staatsanwalt wurde von einem deutschen Gericht rechtskräftig verurteilt.
Stattdessen waren Ankläger und Richter von Sondergerichten u.a. im Bundesjustizministerium, am Bundesgerichtshof und im Bundesverfassungsgericht vertreten. Sogar Richter des Volksgerichtshofs nahmen später an Gerichten in ganz Deutschland hohe Positionen ein.
Walter Roemer, der Leiter der Vollstreckungsabteilung am Landgericht München, der auch die Hinrichtung der Mitglieder der Weißen Rose bestätigte, war später im Bundesjustizministerium beschäftigt.
Auch Erbgesundheitsgesetzeskommentator Massfeller, der an einer Folgesitzung der Wannseekonferenz unter der Leitung von Adolf Eichmann teilgenommen hatte, arbeitete später im Bundesjustizministerium.
Der Grundgesetz-Kommentar trägt bis heute den Namen Maunz-Düring. Theodor Maunz, ein Schüler des Staatsrechtlers Carl Schmitt, begründete 1937 die Abschaffung der Gewaltenteilung zugunsten der »Führergewalt«.
1952 wurde er Ordinarius an der LMU, 1957 bayrischer Kultusminister. Bis zu seinem Tod 1993 verfasste Maunz anonyme Artikel für die Deutsche National-Zeitung des rechtsextremen DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey.
Der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Hermann Pfannmüller, der mehrere tausend Tötungsempfehlungen im Rahmen der Euthanasieaktion ausgesprochen hatte, wurde nur wegen Beihilfe zum Totschlag zu 5 Jahren Haft verurteilt und blieb einer der wenigen verurteilten Euthanasietäter nach 1948.
Bis in die 80er Jahre gestanden deutsche Gerichte, bis hin zum Bundesgerichtshof, Euthanasiefunktionären und -ärzten, allesamt Ärzte und Juristen, strafmildernd einen entschuldbaren Verbotsirrtum wegen ideologischer Verblendung zu.
»Der Beschuldigte«, so hieß es in der Bewertung des Amtsgerichts Frankfurt 1960, »beging seine Tat zu einer Zeit, als das gesamte deutsche Volk irregeführt war.«
Die Verjährungsfristen von Mord und Beihilfe wurden in den Nachkriegsjahrzehnten heiß debattiert. Erst am 3. Juli 1979 beschloss der Deutsche Bundestag, die Verjährung für Mord ausdrücklich aufzuheben.
Eduard Dreher, der am Sondergericht Innsbruck in der NS-Zeit mehrere Todesurteile wegen Lappalien verantwortet hatte, bewirkte noch 1968 eine unscheinbare Gesetzesänderung, durch die ein Großteil der NS-Taten außer Mord mit einem Schlag rückwirkend verjährte. Damit platzte der Großprozess gegen Mitarbeiter des Reichsicherheitshauptamts, dem organisatorischen Zentrum der Judenvernichtung.
Die Schlussstrichdebatte in Politik und Gesellschaft setzte bereits in den ersten Nachkriegsjahren ein und wurde bis in die 80er Jahre von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen.
Das nationalsozialistische Narrativ über den Widerstand der sogenannten »Roten Kapelle« wurde von zahlreichen Journalisten und Historikern jahrzehntelang kritiklos übernommen, die Widerstandskämpfer erneut verunglimpft. Das Gedenken an die Opfer der NS-Diktatur war und ist umkämpft. Der Bau des Berliner Holocaust-Mahnmals wurde erst 1999 beschlossen und 2005 eingeweiht. In München befand der Stadtrat 1985 eine dauerhaft brennende Flamme am Platz der Opfer des Nationalsozialismus allen Ernstes für zu teuer.
2018 verkündete der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland, Hitler und die Nationalsozialisten seien nur ein »nur ein Vogelschiss« in 1000 Jahren deutscher Geschichte. 2019 legt die AfD einen Gesetzentwurf vor, der sich klar am Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 orientiert und ein AfD-naher Staatsanwalt in Thüringen ermittelt rechtswidrig gegen das Künstlerkollektiv »Zentrum für Politische Schönheit« wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Auch vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen beleuchtet »Kein Kläger« die Grundwerte von Rechtsstaatlichkeit und die unverzichtbare Rolle der Justiz bei der Eindämmung rechtsextremistischer und antisemitischer Gewalt.
Szenenfotos
Zeitzeugen
2018 und 2019 führte Christiane Mudra Interviews mit den ZeitzeugInnen Gabriel Bach (Ankläger im Eichmann-Prozess), Saskia von Brockdorff (Tochter der Widerstandskämpferin Erika von Brockdorff), Ernst Grube (Holocaust-Überlebender), Prof. Wolfgang Huber (Sohn des Widerstandskämpfers Prof. Kurt Huber), Walter Joelsen (Holocaust-Überlebender), Markus Schmorell (Neffe des Widerstandskämpfers Alexander Schmorell), Uri Siegel (Rechtsanwalt für Entschädigungsfragen), Walter Sylten (Sohn des ermordeten Pfarrers Werner Sylten), Lisa Wanninger (Nichte des Euthanasieopfers Thea Dorn) und Gerhard Wiese (Ankläger im Auschwitz-Prozess).
Presse
“Bei der interaktiven Aufführung Kein Kläger ziehen Schauspieler und Publikum drei Stunden lang durch München auf der Spur von Nazi-Juristen und ihren schrecklichen Taten. […] Unterwegs gibt es per App Interviews mit Zeitzeugen und Hintergrundinfos. […] Die Schauspieler schlüpfen immer wieder in andere Rollen. Mal Täter, mal Ankläger, mal Opfer, mal Mitläufer. Ihre Texte fast ausschließlich historische Originalzitate. […] Mit ihrem Stück möchte sie das Publikum anregen, über die Rolle der Gerichtsbarkeit nachzudenken, so die Regisseurin, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart.”
ZDF HEUTE+ ÜBER KEIN KLÄGER, 12. JULI 2019
„Die Münchner Theaterszene lässt aufhorchen. Ein Theaterprojekt mit einem heiklen Thema steht dort auf dem Programm, das die junge Bundesrepublik lange verdrängt hatte. Die Präsenz vieler Alt-Nazis in führenden Positionen. Besonders ungewöhnlich dabei: Die Art der Inszenierung. Besonders spannend die Parallelen, die dort zur Gegenwart gezogen werden. Schnörkellos erzählt das Theaterstück Kein Kläger von Nazijuristen und ihren Karrieren im Nachkriegsdeutschland. Das Stück ist eine Montage aus interaktiven Elementen, multimedialen Zeitzeugeninterviews und Schauspielszenen.“
BAYERISCHER RUNDFUNK - RUNDSCHAU, 10. JULI 2019
Politisches Theater at its best erlebt Nachtkritikerin Anna Landefeld bei Christiane Mudra, die sich in ihrem Stück “Kein Kläger. NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren” bereits zum dritten Mal den rechtsextremen Kontinuitäten in der deutschen Justiz seit dem Nationalsozialismus widmet und die Zuschauer dafür quer durch München an Originalschauplätze wie das OEZ schickt […]
Politisches Theater at its best erlebt Nachtkritikerin Anna Landefeld bei Christiane Mudra, die sich in ihrem Stück “Kein Kläger. NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren” bereits zum dritten Mal den rechtsextremen Kontinuitäten in der deutschen Justiz seit dem Nationalsozialismus widmet und die Zuschauer dafür quer durch München an Originalschauplätze wie das OEZ schickt […]
PERLENTAUCHER.DE AM 13. Juli 2019
“Es ist eine Mammutaufgabe, die sich Mudra gestellt hat, die, spätestens nach diesem Abend, zu Recht als politischste unter den Münchner Theatermacher*innen bezeichnet werden kann. Umso beeindruckender ist es, wie gut es ihr gelingt, gleichermaßen auf emotionaler wie intellektueller Ebene zu berühren und mitzunehmen. […] Es ist ein besonderes Projekt, mit dem Christiane Mudra nach “Wir waren nie weg. Die Blaupause” (Juli 2015) und “Off the record-die Mauer des Schweigens” (November 2016) ihre Trilogie zum Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe in der Bundesrepublik und besonders der Stadt München abschließt. Es ist so mutig wie innovativ.”
ANNA LANDEFELD IN NACHTKRITIK ÜBER "KEIN KLÄGER" AM 12. JULI 2019
“Es gibt eine Tradition, […] welche die unermüdlich recherchierende und politisch leidenschaftlich engagierte Theatermacherin Mudra in ihrem monumentalen Stadtraumprojekt “Kein Kläger” als Abschluß ihrer performativen NSU-Trilogie anprangert. […] selten hat man so eine überwältigende, politisch nachhaltige Performance durch die Stadt erlebt.”
MICHAEL STADLER, ABENDZEITUNG, 13./14. JULI 2019
“Für ein Interview mit dem Staatsanwalt des Eichmann-Prozesses reiste Christiane Mudra nach Jerusalem. In Frankfurt am Main traf sie einen Ankläger aus den Auschwitz-Prozessen. Außerdem sprach sie mit NS-Opfern aus München und Berlin. Deren Berichte können sich die Besucher online anschauen.”
KATRIN HILDEBRAND, MÜNCHNER MERKUR, 10. JULI 2019
“In ungeheurem Umfang hat Mudra recherchiert, zu Nachkriegskarrieren von NS-Juristen, zum Versagen der Justiz in der Verurteilung von Kriegsverbrechern sowie den Versäumnissen vor und beim NSU-Prozess. Sie sprach mit Angehörigen von Euthanasieopfern und Widerstandskämpfern. Entstanden ist ein beeindruckendes Archiv deutscher Justizgeschichte, digital abzurufen auf investigativetheater.com.
[…] ein Projekt von großer Wichtigkeit. Mudra, die mit “Kein Kläger” eine Performance-Trilogie zum Umgang mit nationalsozialistischem Erbe beendet, ist es bitter ernst in ihrer Forderung nach radikaler Aufarbeitung.
So gelingt es Mudra […] mit der Macht der Fakten und der realen Orte, ins Unrechtsbewusstsein ihrer Zuschauer vorzudringen. […] Diese Schuld zerbricht alle Rechtsordnungen, lässt Mudra einen Schauspieler sagen. Wie recht sie hat.”
CHRISTIANE LUTZ, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 13. JULI 2019
“Christiane Mudra ist mit Sicherheit die politischste Theatermacherin in Münchens freier Szene. Seit 2013 beschäftigt sie sich in ihrem investigativen Theater mit dem Thema Rechtsterrorismus in Deutschland.”
VON MATTHIAS PFEIFFER UND PETRA HALLMAYER AM 7. JULI 2019, MÜNCHNER FEUILLETON
“Kein Kläger” zeigt, wie braun die Justiz der Nachkriegszeit war. Zum dritten Mal beschäftigt sich die Regisseurin Christiane Mudra in einem Theaterprojekt mit Rechtsextremismus in Deutschland. Ihre neueste Performance zeichnet nach, wie viel Einfluss frühere NS-Juristen auch in der Bundesrepublik noch hatten.
BAYERISCHER RUNDFUNK - KULTURWELT VOM 11. Juli 2019