SELFIE ICH

Psychische Erkrankungen, Leistungsgesellschaft
und Glücksterror

von Christiane Mudra


URAUFFÜHRUNG

24. November 2022 in Münchner Privatwohnungen


Berlin-Premiere: 17. September 2023
Tickets ab 1.8. hier



SELFIE & ICH basiert auf investigativer Recherche sowie auf Gesprächen mit Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben und gewährt Einblick in ihre Erfahrungen, Gefühle und Wünsche.
Eine Patientenakte aus den Jahren 1939 bis 1984 veranschaulicht zudem die umkämpften Reformbestrebungen in Deutschlands Psychiatrien sowie Stigmatisierung und Scham im direkten Umfeld der Betroffenen.
Der Abend klärt über psychische Belastungen auf, untersucht Vorurteile und Berührungsängste und hinterfragt die omnipräsente Bewertung von Individuen anhand ihrer privaten und beruflichen "Performance".
SELFIE & ICH seziert das Spannungsfeld zwischen Schein und Sein und beleuchtet nicht zuletzt die systemische Deformation unserer leistungsorientierten Gesellschaft.


Ablauf

Das Publikum bewegt sich in Kleingruppen durch mehrere Wohnungen in Haidhausen, in denen Performer*innen Angststörungen, Burnout, Depression, Magersucht, Schizophrenie und Alkoholabhängigkeit erlebbar machen.
Das intime Setting lässt Vereinsamung und Isolation von Großstadtbewohner*innen hinter den Fassaden der Leistungsgesellschaft erspüren.
Durch 3D-Audio-Aufnahmen werden interviewbasierte Gedankenströme der Protagonist*innen räumlich in abgebildet: Die Stimmen umkreisen die Zuschauer*innen hautnah und ermöglichen es ihnen, in die Rolle der Ich-Erzähler*innen zu schlüpfen.
Kontrastiert wird dieser Effekt durch O-Töne der Interviewpartner*innen sowie psychoakustische Mittel. Über Sitzflächen oder Gegenstände wird Schall punktuell auch körperlich übertragen und löst unwillkürlich eine physische Reaktion der Teilnehmer*innen aus.


Kontext

Etwa 27,8 % der Erwachsenen in Deutschland sind jährlich von mindestens einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht 17,8 Millionen Personen.
Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen, gefolgt von Depressionen und Abhängigkeitserkrankungen.
WHO-Hochrechnungen zeigen, dass in den einkommensstärksten Ländern im Jahr 2030 drei Viertel der Krankheiten, die die Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen, psychische sein werden.

Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft von einer entgrenzten Positivität geprägt, die den Druck auf das Individuum erhöht.
Glück ist zum Statussymbol geworden, das strahlende Lächeln zur Norm.
In Social-Media-Posts wird das inszenierte Leben als Erfolgsprodukt präsentiert. Bewertungsmodelle beeinflussen den "Selbstwert" rund um die Uhr und verfälschen die Realität. Der Terror des Positiven spiegelt sich in Glücks-Mantren auf Tees, Duschgels oder Küchenrollen.

In der NS-Zeit galten nicht arbeitsfähige Menschen als „unwertes Leben“. Noch immer ist von alten oder kranken Menschen zu hören, sie seien nichts mehr wert. Heute sind in psychosomatischen Kliniken auch zahlreiche "High-Performer*innen" anzutreffen.
Welche Rolle spielen Arbeitsleistung und soziale Normen für Selbstwert und die gesellschaftliche Bewertung von Menschen?

Jeder dritte Mensch in Deutschland ist im Laufe seines Lebens von einer psychischen Erkrankung betroffen.
Vor diesem Hintergrund will "Selfie und ich" Betroffene zu Wort kommen lassen, um über psychische Erkrankungen aufzuklären, Empathie zu fördern, Vorurteile abzubauen und Berührungsängste aufzulösen.
Das Ziel des Abends ist es letztendlich, für eine inklusivere, sozialere Gesellschaft und eine menschlichere, recovery-orientierte Psychiatrie einzutreten.

Die Autorin hat zugehört. Sie hat die Aussagen von Betroffenen gesammelt und daraus vier fiktionale Figuren entwickelt, die unter Depressionen, Schizophrenie, Anorexie und Alkoholismus leiden. Sie kommentieren ihre Krankheit mit großer Klarheit. (...)

arte JOURNAL, Reportage und Dokumentation (deutsch-französisch), 18. September 2023


Christiane Mudra hat Interviews mit Betroffenen geführt und sie zu 3-D-Soundcollagen verdichtet, zu unter die Haut gehenden Polyphonien aus Schicksalsbericht, innerem Ringen, äußeren Anwürfen und Reflexionen über die gesellschaftliche Dimension des Krankheitsbildes. (...) Mudras Entscheidung, als Setting Privatwohnungen zu wählen, ist nicht einfach nur ein performativer Thrill. Vielmehr vermittelt sich ein Gefühl dafür, dass psychische Ausnahmeerfahrungen kein entrücktes Phänomen hinter Klinikmauern sind – so gern wir uns das auch einreden würden –, sondern Alltag."


"Christiane Mudra hat mit "Selfie & Ich" einen klugen Theaterabend über psychische Erkrankungen entwickelt. (...) 
Mudra bedient dabei weder Voyeurismus, noch zwingt sie die Zuschauer in eine Betroffenheit. Der beeindruckende Abend erzählt, was ist, und macht die Tür auf zu einem größeren Verständnis. (...) Für ihre Recherche hat Mudra mit Betroffenen gesprochen und aus Interviews von je sechs bis acht Erkrankten vier Figuren entwickelt. Sie sprechen über sich selbst, Experten der eigenen Sache - das ist die eine Stärke des Abends, der noch bis zum 4. Dezember zu sehen ist.
Die andere ist, dass Mudra versteht, ihre Recherchen in Theatersprache zu übersetzen. (...) Am Ende des Abends ist man aufgewühlt, aber dem Begreifen so nah wie nie."

Es ist eine eindringliche, beeindruckende und berührende Erfahrung, und es ist ein Theaterstück, das die Zuschauenden fordert. Die Nähe zu den Darstellenden, die Anwesenheit und die direkte Begegnung im Raum verlangt eine eigene Positionierung. (...) Das kollektive Wegschauen, das Ignorieren und Isolieren, das gesamtgesellschaftliche Versagen im Umgang mit psychischer Erkrankung, lässt Mudra nicht durchgehen.

"Christiane Mudra hat ein Theaterprojekt der anderen Art entwickelt: Das Publikum wird in Privatwohnungen gelotst, wo es von Gefühlen und Wünschen psychisch Kranker erfährt – alle Opfer von Leistungsgesellschaft und Glücksterror.
(...) Während allgemein der Alkoholkonsum in Deutschland seit Jahren leicht zurückgeht, steigt er bei einer Gruppe an: Bei Akademikerinnen mit hohem sozioökonomischem Status – so heißt es in der Sound-Collage, die Christiane Mudra höchst sensibel aus Informationen, Interviewsplittern von Betroffenen und den dahinfließenden Gedanken ihrer Protagonisten komponiert hat. (...)
Zwischen Selfie und ich gähnt ein Abgrund, sagt Mudra mit ihrer Performance. Sie führt ihr Publikum (...) in Sound und Darstellung an die sonst so wirkungsvoll versteckten psychischen Auswirkungen der hochgetunten Dauerleistung heran und konfrontiert es auf den Spaziergängen durch den Haidhauser Abend über Audio mit dem authentischen Fall eines Schizophreniepatienten.
Dieser Fall und auch jene Menschen hinter den Wohnungstüren von "Selfie&Ich" werden einem noch lange nachgehen.

Sven Ricklefs, B2 Kulturwelt, 25. November 2022


"Die Geschichten entstammen Interviews mit Betroffenen und das Gefühl, in deren intimen Lebensbereich eingedrungen zu sein, schärft die Sinne, wühlt aber auch auf. Dieser dramaturgische Kniff wird unterstützt von einem ausgefeilten 3D-Sounddesign. (...)
Dann hört man die Dokumentation über einen Mann, (...) der nur knapp der Euthanasie entging. (...)
Gerade in diesem Versuch der Vollumfänglichkeit ein ebenso ungewöhnliches wie intensives Erlebnis.
"


Credits


Recherche, Text und Regie: Christiane Mudra

Mit
Gabriele Graf
Sebastian Gerasch
Melda Hazırcı
Murali Perumal

Weitere Sprecher*innen: Stefan Lehnen, Christiane Mudra

3D Sound Design: Martin Rieger
Fachberatung und Mitarbeit Recherche Tina Hofmann
Ausstattung: Sarah Silbermann

Körperschall und Licht Design: Peer Quednau
CGI/VFX: Yavuz Narin
Grafik: Jara López Ballonga
Fotos: Verena Kathrein
Regieassistenz: Daniela Gancheva
Produktion: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro
Presse: Kathrin Schäfer KulturPR

Uraufführung gefördert von

im Rahmen der Optionsförderung

Berlin-Premiere unterstützt durch das NATIONALE PERFORMANCE NETZ Gastspielförderung
Theater, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien, sowie den Kultur- und Kunstministerien der Länder

sowie vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München und der Schulze-Fielitz-Stiftung.

in Kooperation mit